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Aktualisiert: 3. Apr.



Ich mag den Necker-Würfel. Er versinnbildlicht etwas für mich: Wenn du lange genug darauf schaust, verändert sich etwas, verschiebt sich etwas auf geradezu gravierende Art und Weise.


Der Necker-Würfel ist ein Kippbild. Ein Kippbild ist etwas, das im Zuge seiner Betrachtung in etwas anderes umschlägt. Der Hintergrund wird zum Vordergrund, der Vordergrund wird zum Hintergrund. Was folgt, ist ein Aha-Moment. Eine Illusion? Ich würde sagen: Nein, das wird der Sache nicht gerecht. Dieser Perspektivenwechsel ist keine Illusion im engeren Sinn. Vielmehr ist das Potential, den Würfel auf die jeweils andere Weise zu sehen, wirklich vorhanden. Zugleich ändert sich nichts am Würfel. Es ändert sich nur etwas im Betrachter. Es ist auch nicht so, dass eine der beiden Perspektiven, die man auf den Necker-Würfel haben kann, wahrhaftiger ist als die andere. Beide Perspektiven haben ihre Richtigkeit. Das heißt, sie sind wirklich und wirkkräftig, wenn auch vielleicht nicht im engeren Sinne real – aber was würde das auch heißen?


Der Necker-Würfel funktioniert als Kippbild, da er uneindeutig gezeichnet ist, eine ambige Figur. In der Forschung wird der Necker-Würfel oft als Metapher für die Subjektivität und Wandelbarkeit des Zeitempfindens herangezogen. Ich denke, das Leben als solches hat mehr mit einem Necker-Würfel gemein als mit klaren, geometrischen Figuren.


Die Erfahrung, das subjektive Innenleben, ist grundlegend ambig, uneindeutig. Und dennoch ist die subjektive Wirklichkeit nachvollziehbar, miterfahrbar für andere, indem man beispielsweise sagt: Schau mal auf den Vordergrund dieses Würfels. Und jetzt schau auf den Hintergrund. Gut. Sag mir, was du siehst.

Nachdem ich vor einigen Jahren einen Beitrag zur Evidenzbasiertheit psychodynamischer bzw. psychoanalytisch orientierter Psychotherapie verfasst habe, wird es nun Zeit für ein Update. Dabei habe ich mich auf Fachartikel beschränkt, die in qualitativ hochwertigen Journals erschienen sind.

Eine Übersichtsstudie von Leichsenring et al. (2023) sowie eine weitere Übersichtsstudie von Gonon und Keller (2021) kommen zu dem Schluss, dass psychodynamische Psychotherapie (PDT) als empirisch belegte Behandlung für häufige psychische Störungen gelten kann. Die Studie von Leichsenring et al. (2023) bezieht sich auf aktuelle Meta-Analysen zur Effektivität psychodynamischer Therapie bei Depressionen, Angststörungen, somatoformen Störungen, Essstörungen, Persönlichkeitsstörungen und komplexen Traumata. Die Ergebnisse zeigen, dass PDT bei all diesen Störungen wirksam ist. Die Effektstärken sind mit denen anderer etablierter Therapieformen vergleichbar (dabei ist es auffällig, dass viele Therapien, die gerade als en vogue gelten, etwa die Schema-Therapie, ACT oder auch IFS zunehmend Ansätze entwickeln, die den psychodynamischen Ansätzen frappant ähneln).


Zu einzelnen Symptombildern:


Angststörungen


Psychodynamische Psychotherapie ist eine wirksame Option für soziale Angststörungen, insbesondere für Patienten (Steiner et al. 2017), die keine Expositionstherapien bevorzugen oder an tieferliegenden Konflikten arbeiten möchten (Milrod et al 2016). Sie erreicht vergleichbare Effekte wie Kognitive Verhaltenstherapie. (Zhang et al. 2022)


Depressionen bzw. »Mood Disorders«


Eine Metaanalyse von Driessen et al. (2015) untersuchte, ob psychodynamische Therapie in ihrer Wirksamkeit gleichwertig zu etablierten Behandlungen wie kognitiver Verhaltenstherapie (CBT) und Pharmakotherapie ist. Es wurden 23 randomisierte kontrollierte Studien (RCTs) mit insgesamt 2.751 Patienten analysiert, wobei – wie im Fall der anderen hier erwähnten Metastudien – ein besonderes Augenmerk auf methodische Strenge und die Minimierung von Forscher-Bias gelegt wurde. Die Metaanalyse kam zu dem Schluss, dass psychodynamische Therapie in ihrer Wirksamkeit etablierten Behandlungen wie CBT oder Pharmakotherapie gleichwertig ist. 


Persönlichkeit


Menschen mit schweren Borderline-Symptomen profitieren vom Skills-Training und ähnlichen DBT-Interventionen. Andererseits profitieren Menschen, deren Borderline-Symptomatik weniger stark ausgeprägt ist, von psychodynamischen Therapien eventuell stärker als von DBT (Keefe et al. 2020). Eine Meta-Studie von Cristea et al. (2017) untersuchte die Wirksamkeit unterschiedlicher Psychotherapien bei der Behandlung der Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPD) durch eine systematische Analyse randomisierter klinischer Studien. Es wurden 33 randomisierte klinische Studien mit insgesamt 2256 Teilnehmern analysiert. Den Ergebnissen dieser Meta-Studie zufolge sind vor allem psychodynamische Ansätze und dialektisch-behaviorale Therapie effektiv bei der Behandlung von Borderline-Persönlichkeitsstilen.


Somatoforme Störungen, psychosomatische Störungen und Konversionsstörungen


Eine Metastudie von Abbas et al. (2009) belegt außerdem, dass die psychodynamische Therapie auch bei somatoformen Störungsbildern wesentliche Verbesserungen bringen kann, insbesondere im Hinblick auf körperliche Symptome, psychiatrische Symptome und soziale Funktionalität.


Dabei dürften die Einsichten in den Zusammenhang von Vergangenheit und Gegenwart wesentlich für die Veränderungsprozesse in psychodynamischen Therapien sein (Jennissen et al. 2018).

Die psychodynamische Psychotherapie hat sich wiederholt als wirksame Methode zur Behandlung einer Vielzahl psychischer Probleme erwiesen, früher mithilfe von qualitativer Forschung, heute immer öfters mithilfe von quantitativen, randomisierten Kontrollstudien. Die Aufnahme der psychodynamischen Therapie in die Mental Health Policy Guidance der WHO unterstreicht ihre Bedeutung als evidenzbasierte Behandlungsmethode.


Zugleich ist es wichtig zu erkennen, dass die standardisierten Rahmenbedingungen von Wirksamkeitsstudien nicht immer die gesamte Bandbreite der therapeutischen Erfahrung erfassen können. Die Nuancen der zwischenmenschlichen Interaktion und die Tiefe individueller Prozesse, die im therapeutischen Raum stattfinden, sind oft schwer messbar. Dies bedeutet nicht, dass Wirksamkeitsstudien irrelevant sind; sie liefern wichtige Erkenntnisse, doch sie können die Komplexität der psychodynamischen Therapie nur teilweise abbilden.


Es kann hilfreich sein, die verschiedenen Therapieoptionen zu erkunden, um eine passende Behandlung zu finden. Die psychodynamische Psychotherapie ist dabei eine von vielen Möglichkeiten, die in Betracht gezogen werden kann.


Quellen


Abbass, Allan,Stephen Kisely, Kurt Kroenke; Short-Term Psychodynamic Psychotherapy for Somatic Disorders: Systematic Review and Meta-Analysis of Clinical Trials. Psychother Psychosom 1 August 2009; 78 (5): 265–274.


Driessen E, Hegelmaier LM, Abbass AA, Barber JP, Dekker JJ, Van HL, Jansma EP, Cuijpers P. (2015) The efficacy of short-term psychodynamic psychotherapy for depression: A meta-analysis update. Clin Psychol Rev.


Gonon F, Keller PH. L’efficacité des psychothérapies inspirées par la psychanalyse : une revue systématique de la littérature scientifique récente [Efficacy of psychodynamic therapies: A systematic review of the recent literature]. Encephale. 2021 Feb;47(1):49-57. 


Jennissen, S., Huber, J., Ehrenthal, J. C., Schauenburg, H., & Dinger, U. (2018). Association between insight and outcome of psychotherapy: Systematic review and meta-analysis. American Journal of Psychiatry175(10), 961–969


Keefe JR, Kim TT, DeRubeis, RJ, Streiner DL, Links PS, McMain SF (2020). Treatment selection in borderline personality disorder between dialectical behavior therapy and psychodynamic psychiatric management. Psychological Medicine 1–9.


Leichsenring, F., Abbass, A., Heim, N., Keefe, J.R., Kisely, S., Luyten, P., Rabung, S. and Steinert, C. (2023), The status of psychodynamic psychotherapy as an empirically supported treatment for common mental disorders – an umbrella review based on updated criteria. World Psychiatry, 22: 286-304.


Milrod B, Chambless DL, Gallop R, Busch FN, Schwalberg M, McCarthy KS, Gross C, Sharpless BA, Leon AC, Barber JP (2016) Psychotherapies for Panic Disorder: A Tale of Two Sites. J Clin Psychiatry. 77(7):927-35.


Qiqi Zhang, Pengcheng Yi, Gi Song, Kangkang Xu, Yi Wang, Jiayuan Liu, Zhao Chen, Haifeng Zhang, Lijun Ma, Wen Liu, Xiaoming Li, (2022) The efficacy of psychodynamic therapy for social anxiety disorder–A comprehensive meta-analysis, Psychiatry Research, Volume 309.


Steinert, C., Munder, T., Rabung, S., Hoyer, J., & Leichsenring, F. (2017). Psychodynamic Therapy: As Efficacious as Other Empirically Supported Treatments A Meta-Analysis Testing Equivalence of Outcomes. American Journal of Psychiatry174(10), 943–953.


Psychodynamische Psychotherapien, darunter auch die psychoanalytisch orientierte Psychotherapie, sind heute State-of-the-art-Verfahren zur Bewältigung und Behandlung psychischer Probleme.


Die psychoanalytisch orientierte Psychotherapie ist laut Studien so wirksam wie die Methoden anderer Schulen (Steinert et al. 2017), bringt darüber hinaus jedoch anhaltende Vorteile: Im Vergleich zur kognitiven Verhaltenstherapie gibt es so etwa Hinweise darauf, dass die positiven Effekte von psychodynamischen und psychoanalytischen Therapien bei weitgehend gleicher Effektivität auch noch mehrere Jahre nach Behandlungsende fortdauern (Huber 2012).


Kurz: psychodynamische Therapien sind evidenzbasiert.


Unabhängig von einzelnen Schulen sind Psychotherapien bemerkenswert wirksam: In der psychiatrischen Forschung gelten Effektgrößen von 0,8 als hoch, 0,5 moderat und 0,2 gering. Umfangreiche Metaanalysen zu Psychotherapie-Wirkungsstudien haben gezeigt, dass die Effektgrößen von Psychotherapie zwischen 0,73 und 0,85 liegen (Solms 2018). Eine Metaanalyse für psychoanalytische Psychotherapie kam auf eine durchschnittliche Effektgröße von 0,97 (Abbass et al. 2006). Zum Vergleich: Antidepressive Medikamente (wie SSRIs) haben eine durchschnittliche Effektstärke von 0,31. (Solms 2018)


Heute ist die psychoanalytisch orientierte Psychotherapie eine evidenzbasierte Behandlungsform für ein breites Spektrum psychischer Beschwerden. Wissenschaftliche Studien weisen darauf hin, dass das psychoanalytisch orientierte Verfahren gleichermaßen effizient wie nachhaltig ist.


Quellen:


Abbass, AA., Hancock, JT., Henderson, J., et al (2006) Short-term psychodynamic psychotherapies for common mental disorders. Cochrane Database of Systematic Reviews, 4: CD004687.

Huber, Dorothea, et al. “Comparison of Cognitive-Behaviour Therapy with Psychoanalytic and Psychodynamic Therapy for Depressed Patients — A Three-Year Follow-up Study.” Zeitschrift Für Psychosomatische Medizin Und Psychotherapie, vol. 58, no. 3, 2012, pp. 299–316. JSTOR, www.jstor.org/stable/23871519. Accessed 16 Jan. 2020.


Shedler J. (2010). The efficacy of psychodynamic psychotherapy. Am. Psychol. 65, 98–109. 10.1037/a0018378


Solms, M. L. (2018). The neurobiological underpinnings of psychoanalytic theory and therapy. Frontiers in Behavioral Neuroscience, 12, Article 294. https://doi.org/10.3389/fnbeh.2018.00294


Steinert C., Munder T., Rabung S., Hoyer J., Leichsenring F. (2017). Psychodynamic therapy: as efficacious as other empirically supported treatments? a meta-analysis testing equivalence of outcomes. Am. J. Psychiatry 174, 943–953. 10.1176/appi.ajp.2017.17010057

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