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Die Diagnose: eine verbreitete Krankheit

Schon Karl Kraus hat es gewusst: Die Diagnose ist eine der verbreitetsten Krankheiten. Das trifft auch auf die psychiatrische und psychologische Diagnostik zu.


Es passiert schnell, die Diagnose mit der Ursache zu verwechseln.


Nehmen wir an, ein Mann leidet unter unspezifischen Ängsten. Die Sache scheint klar, ihm wird das Etikett »Angststörung« verpasst. Wir sagen ihm also: »Sie suchen Antworten? Schlagen Sie es nach, im diagnostischen Leitfaden für psychiatrische Störungen, die Antwort lautet F41.1, die Identifikationsnummer für die generalisierte Angststörung«.


Natürlich kann man das tun, aber es hilft niemandem weiter, wenn wir herausfinden wollen, was denn nun eigentlich wirklich mit seiner Angst auf sich hat.


Die Diagnose ist ein Stoppschild für das Denken.


»Er hat Ängste, weil er eine Angststörung hat!«.


Nein. Das ist ein zirkulärer Fehlschluss: Wir wissen nicht, weshalb der Patient Angst hat und werden es nie erfahren, solange wir davon absehen, gemeinsam mit ihm die Gründe dafür zu erkunden.


Eine Diagnose ist immer nur eine Beschreibung einer Reihe mehr oder weniger offensichtlicher Symptome. Sie sagt nichts darüber aus, worin die Ursachen dieser Symptome bestehen oder welche Bedeutung sie für das Leben der Patienten haben.


Starre Kategorien verleiten uns dazu, nicht das Individuum, sondern nur die jeweilige Kategorie wahrzunehmen. Das führt wiederum dazu, dass das, was nicht passt, passend gemacht wird: Es wird übersehen, was nicht in die vorgesehenen Schemata passt. Menschen werden auf diese Weise festgeschrieben. So ist beispielsweise erwiesen, dass klinisch arbeitende Menschen sich pessimistischer über die Zukunft von Patienten äußern, wenn diese ihnen anhand einer Diagnose statt einer tiefergehenden Beschreibung vorgestellt werden.


Der Autor und Neurologe Oliver Sacks hat einmal Bedauern darüber geäußert, dass die aus der Psychoanalyse stammende Kunst, dichte Fall- und Patientengeschichten zu schreiben, mit dem DSM (dem US-amerikanischen Diagnosemanual, dessen Pendant bei uns der sogenannte ICD ist) verloren gegangen sei. Sacks zufolge habe dies auch fatale Auswirkungen auf die Forschung gehabt, da seitdem alles nur noch mithilfe standardisierter Kriterienkataloge abgehandelt wird.


Durch solche Entwicklungen geraten detaillierte Beobachtungen und damit auch Abweichungen von den normierten Diagnosekatalogen aus dem Blick. Gerade die Details sind es aber, die uns als Individuen ausmachen. Natürlich kann ein vorsichtiger Umgang mit diagnostischen Klassifizierungen dabei helfen, Hypothesen aufzustellen – am Ende gibt es aber nur Einzelfälle.


Wenn es um die Psyche geht, ist es das Singuläre, mit dem wir uns beschäftigen müssen.


Quellen:


Karl Kraus. Aphorismen und Gedichte. Volk und Welt. Berlin 1984.


Sacks, Oliver, Der Strom des Bewusstseins, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2017.


Shedler, Jonathan, As Psychiatric Diagnosis is Not A Disease. Doublethink makes for Bad Treatment. https://www.psychologytoday.com/us/blog/psychologically-minded/201907/psychiatric-diagnosis-is-not-disease





 
 
 

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