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Das Kekulé Problem

Cormac McCarthy ist vor allem durch seine Romane Die Abendröte im Westen und The Road bekannt, Werke, die sowohl als Romane wie auch als anthropologisch-psychologische Studien über die menschliche Natur gelesen werden können. Seine literarische Sprache ist bildhaft-archaisch; so beschwört er unmittelbar unsere visuelle Vorstellungskraft, wenn er Die Abendröte im Westen mit einer direkten Aufforderung an diese beginnen lässt:


»Seht das Kind. Der Junge ist blass und mager, trägt ein dünnes, zerschlissenes Leinenhemd.«.

Vor einigen Jahren hat McCarthy einen Essay für das Nautilus-Magazin geschrieben, in welchem er eine prägnante Theorie des Unbewussten vorlegt, die seiner literarischen Arbeit entspricht: The Kekulé Problem.


Der Titel des Essays bezieht sich auf den Chemiker August Kekulé, der sein Fach revolutionierte, als er die Struktur des Benzolmoleküls entdeckte, bzw., genauer: erträumte. Denn diese Entdeckung wurde ihm in einem Traum eingegeben. In besagtem Traum beobachtete Kekulé eine Schlange dabei, wie sie ihren eigenen Schwanz zu verschlingen im Begriff war. Er erwachte mit dem Aha-Erlebnis, dass es sich bei bei dem Traumbild um die Struktur des Benzolmoleküls handeln musste.


Kekulè löste also ein neuartiges, wissenschaftliches Problem mithilfe eines Traumsymbols. Er gehört damit zu einer Reihe von Wissenschaftlern und Denkern, denen ähnliches widerfahren ist: Darunter Dmitri Mendelejew, Henri Poincaré, und Otto Loewi.


Im Kern geht es in McCarthys Essay um die Nachrangigkeit der Sprache gegenüber einem fundamentaleren Denkprozess, der offenbar bildhaft-symbolisch statt logisch-sprachlich abläuft.


Die Frage, die sich für McCarthy stellt, ist die folgende: Wenn August Kekulé die Struktur des Benzolmoleküls sucht — warum sagt sein Unbewusstes ihm nicht einfach: »Es ist ein Ring.« Warum schickt es stattdessen die Vision einer Schlange, die sich selbst verschlingt?


McCarthys Antwort lautet: Weil das Denken auf unbewusster Ebene nicht sprachlich, sondern symbolisch, bildhaft abläuft. Probleme werden nicht auf der sprachlichen Ebene gelöst.

Offenbar funktioniert das auch mit komplexen Problemen.


Dass Mathematikern in Träumen Lösungen für irgendwelche im Wachen unlösbaren Probleme mitgeteilt werden, und zwar ebenfalls vor allem in Form von Bildern und Symbolen, wertet McCarthy als Hinweis darauf, dass das Unbewusste offenbar sogar des Rechnens fähig ist. Das Unbewusste rechnet. Aber es rechnet nicht mit Zahlen.


Das is erstaunlich als auch in gewisser Weise auch naheliegend, denn, wie McCarthy hervorhebt, das Unbewusste ist – evolutionär, im Hinblick auf die Geschichte der Gattung, als auch individuell – sehr viel älter als das bewusste, sprachliche Denken. Die Sprache ist nur der Überbau für das eigentliche Denken, das dem sprachlichen Ausdruck vorausgeht.


Demnach geht unser Unbewusstes aus einem mit anderen Säugetieren geteilten, gemeinsamen Erbe hervor:


»Das Unbewusste ist eine Maschine zum Betreiben eines Tieres.«

McCarthy zufolge konnte das Unbewusste nie in Worten kommunizieren, also tut es das auch heute nicht. Und es misstraut der Sprache. Sprache ist für das Unbewusste, wie McCarthy es sieht, eine junge, eher störende Erfindung und eine Ablenkung vom Wesentlichen. Worte sind demnach nicht das eigentliche Medium des Denkens; vielmehr komprimieren sie den Denkprozess in handhabbare Päckchen. Sprache ist aus dieser Perspektive betrachtet deshalb in erster Linie ein Mittel der Komplexitätsreduktion: es geht um die Vereinfachung von Phänomenen, die in Wirklichkeit unendlich reichhaltig sind. Die Psychoanalyse kennt diesbezüglich das Konzept der Nachträglichkeit, das ein sehr ähnliches Phänomen beschreibt.


Das Unbewusste versucht uns mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln etwas begreiflich zu machen und eine Erkenntnis in Szene zu setzen. Wenn wir es nicht begreifen, wird es immer wieder von Neuem versuchen, einen uns verständlicheren Ausdruck zu finden. McCarthy schreibt:


»Jeder kennt wiederkehrende Träume. Dabei kann man sich das Unbewusste wirklich als mehrstimmig vorstellen: Er versteht’s nicht, oder? Nein. Er ist ziemlich stur. Was möchtest du machen? Ich weiß nicht. Willst du’s mit seiner Mutter versuchen? Seine Mutter ist tot. Macht’s einen Unterschied?«

Dabei sind die vom Unbewussten bereitgestellten Bilder informationsreicher als etwaige sprachliche Formen.


In einer psychoanalytischen Therapie kann das Ziel daher auch nicht darin bestehen, sprachliche Klarheit herzustellen, sondern es besteht darin, im Gegenüber eine unbewusste Dynamik auszulösen, die es ihm ermöglicht, besser und wirkungsvoller über seine jeweilige Lebenssituation nachzudenken. Wenn das in der therapeutischen Situation klappt, erfährt man, genauso wie Kekulé es tat, ein Aha-Erlebnis oder eine emotionale Reaktion, die etwas Neues hervorbringt.


Quellen:


McCarthy, Cormac, Die Abendröte im Westen, Rowohlt, Reinbek 2016.


McCarthy, Cormac, The Kekulé Problem https://nautil.us/the-kekul-problem-236574/




 
 
 

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