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Ein Blitz

Da ist eine Frau, die im Zuge eines dramatischen Ereignisses fast gestorben wäre.


Sie sagt, das Ereignis hole sie immer wieder ein.


Etwas trifft uns blitzartig, erfasst uns in Lichtgeschwindigkeit.


In Sekundenbruchteilen hat sich alles verändert.


»Man muss darüber hinwegkommen!«


Ich erinnere mich an völlig ausgebrannte und verkohlte Stiefel auf einer Berghütte, die ich irgendwo in den Alpen gesehen habe. Es hieß, ein Wanderer hätte diese Stiefel angehabt, als ihn ein Blitz erfasste.


Was heißt es, über so eine Sache hinwegzukommen?

Was bedeutet es, eine Katastrophe zu bewältigen?

Wie kommt man über den eigenen Tod hinweg?

Über körperliche und seelische Versehrungen?


Vor vielen Jahren habe ich eine Doku über Opfer von Blitzeinschlägen gesehen. Was die Überlebenden miteinander gemeinsam hatten, war, dass sie alle durch diese Erfahrung auf ihre je eigene Weise gezeichnet, verändert waren.


Sie alle hatten völlig unterschiedliche soziokulturelle Hintergründe, Nationalitäten, Bildungsabschlüsse etc. Was sie einte, war die Kluft, die der Blitzeinschlag zwischen dem Davor und dem Danach aufgerissen hatte.


Die Betroffenen schienen sich für eine von zwei Möglichkeiten entschieden zu haben, mit ihren Erfahrungen umzugehen:


Entweder, sie beschrieben das Ereignis als ein Zufallsgeschehen in einem chaotischen Universum.


Oder, sie beschrieben es als einen Schicksalsschlag göttlichen Ausmaßes, als eine das Leben transzendierende Erfahrung.


Auf jeden Fall scheinen Ereignisse solcherart zu sagen: Du musst dich entscheiden!


Der Blitzschlag ist etwas, das nicht ignoriert werden kann. Schon in einer weniger unmittelbaren Entfernung zu einem Blitz empfinden wir diesen wie ein durch den Körper ziehendes Beben.


Nicht umsonst leitete Giambattista Vico, der im 18. Jahrhundert lebende Geschichtsphilosoph, die erste Metaphernbildung von Blitz und Donner ab: Die Gewitter, stellte sich Vico vor, hätten den frühen Menschen erstmals auf eine so tiefgreifende Art Erschaudern lassen, ihn derart elektrisiert, dass der menschliche Geist entzündet worden sei.


Die Menschheit erfuhr demzufolge wortwörtlich einen Geistesblitz, der zur Sprache und zum Denken führte. Vico nannte das »poetische Metaphysik.«


Dabei spielt es keine Rolle, ob Vicos Geschichte faktisch haltbar ist. Sie ist selbst poetische Metaphysik.


Viel wichtiger ist es, dass Vicos Theorie die Vorstellung zugrunde liegt, dass Bedeutungsgebung erst durch die Setzung eines Mysteriums ermöglicht wird, das über den eigenen Verstand hinausgeht. Paradoxerweise wird die Bedeutungsgebung also durch etwas ermöglicht, das letzten Endes unverständlich bleibt.


Auf der anderen Seite ist da die Möglichkeit, das Geschehene als reines Zufallsspiel zu begreifen; als etwas also, das sich auf immer einer tieferen Sinngebung entzieht. Der Begriff »Zufall« dient dann dazu, das Unbegreifliche konzeptuell zu erfassen.


Doch egal, ob man das Erlebte auf die eine oder andere Weise erzählt, ob man sagt, all das war Zufall, oder, all das war Schicksal, es bleibt doch bei einer Erzählung, die versucht, dem Erlebten einen Rahmen zu geben. Was gefordert wird, unumgänglich zu sein scheint, ist eine Positionierung zu dem Geschehenen.


Es geht nicht an, sich einzureden, dass es nie geschehen ist.


In der Doku sagte ein etwa 16-jähriges Mädchen mit Brandmalen an den Armen, dessen Bruder von dem Blitzeinschlag getötet wurde, sinngemäß so etwas wie: Viele Menschen halten daran fest, dass eine solche Katastrophe nicht hätte geschehen dürfen, aber es ergibt keinen Sinn, das zu sagen. Denn es ist passiert. Es widerfährt einem, was einem widerfährt.


Es kann nicht ungeschehen gemacht werden und es ist gleichermaßen verständlich wie fatal, das zu versuchen.


Das Mädchen fasste ihre Erfahrung in religiös gefärbte Begriffe: der Einschlag hätte ihren Körper ausgelöscht, eine zeitlang sei sie nur noch Seele gewesen. Wenn man es lieber psychologisierend ausdrücken möchte, könnte man auch sagen, dass ihr Schockzustand sie dissoziieren ließ.


Die elektrische Entladung zieht in Sekundenbruchteilen durch den Körper, brennt sich in ihn ein, verlässt ihn und verlässt ihn nicht.


In der Dokumentation wies ein anderes Blitzopfer, – ein Mann im mittleren Alter – auf den möglichen, in der Wissenschaft diskutierten Zusammenhang zwischen Blitzen und der Entstehung des Lebens hin. Dabei handelt es sich um eines von mehreren Modellen zur Abiogenese. Wie auch immer die Entstehung des Lebens vonstatten gegangen sein mag, in jedem Fall war diese mit der Freisetzung von Energie verknüpft: mit einem unter Strom setzenden Überschuss oder einem »zu viel«.


Es ist schwer zu begreifen, dass etwas derart Verheerendes zu etwas anderem als Zerstörung führen kann. Und dennoch: hier sind wir.


Quellen:


Vico, GIambattista, Die neue Wissenschaft, Über die gemeinschaftliche Natur der Völker, Walter de Gruyter Berlin 2000 [1725]

 
 
 

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